Impuls der Kolpingsfamilie Ergenzingen zum 21.5.2023: Vom neuen Wir-Gefühl

Sketchnote: Conny Nagel

„Ich“ und „Wir“ zu sagen beschreibt ein Verständnis über sich selbst, über die persönliche Identität und über die Identität einer Gesellschaft. „Ich“ und „Wir“ beschreibt das Selbstverständnis einer Gesellschaft und ihrer Geschichte. Geschichten über sich selbst erzählen, über die Entwicklung der Gemeinschaft, das fördert Zusammenhalt und Gemeinsinn. Deutschland ist eine Meisterin des Geschichtenerzählens. Viele Museen erzählen die Geschichte und Entwicklung Deutschlands. Es fällt allerdings eine Leerstelle auf. Deutschland hat kein Einwanderungsmuseum, nur Auswanderermuseen. Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland und damit ist die Frage nach dem gemeinsamen Wir offenkundig. In  der sogenannten Flüchtlingskrise ist ein neues Wir-Gefühl entstanden, selbst wenn Integration nicht überall gelungen ist. Was an Willkommenskultur bis heute gelebt wird, das trägt und prägt. Davon muss man erzählen. Oder die Coronapandemie – was da an generationenüberreifender Fürsorge und Aufmerksamkeit sich entwickelt hat, das trägt bei zu einem neuen Wir-Gefühl und Wir-Verständnis. Der Klimawandel müsste eigentlich ein globales Wir auslösen und fördern. Da steht die ganze Welt vor einer Entscheidung, ob sie eine Wir-Identität herausbildet oder viele lieber bei sich bleiben.

Wir-Gefühl kann man trainieren. Da lohnt sich der Blick in die Bibel. Überhaupt finden sich in der Bibel grandiose Impulse zu einem neuen Wir-Gefühl. Die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe sind eine Fundgrube – nicht nur für Christen, sondern auch für die Gesellschaft und die Gestaltung von Politik und die Lösung von herausfordernden Themen.

Apostelgeschichte 1,12-14 heißt es:
„Als Jesus in den Himmel aufgenommen worden war, kehrten die Apostel von dem Berg, der Ölberg genannt wird und nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philíppus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelót, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“

Nachdem der Tod Jesu sie wie ein harter Schicksalsschlag getroffen hatte, brauchten sie einander. Zuerst waren sie aus Angst auseinandergelaufen. Jetzt rückt ihre Angst und ihre Sorge um die Zukunft  sie zusammen. Sie hatten diesen Jesus nicht mehr physisch bei sich und waren nun darauf angewiesen, auf eigenen Füßen zu stehen, seine Botschaft in die Welt zu tragen und dafür einen guten Weg zu finden. Das macht zunächst einmal Angst. Es braucht ein neues Wir. Damals vertrauten sie dem Gebet als einer Möglichkeit, den Blick für die Situation zu verändern, mit neuen Augen zu sehen, sich neu zu verbinden mit diesem Jesus und einander zu stärken und zu ermutigen. Das ist ihnen gelungen, die Jesus-Bewegung nahm an Fahrt auf und ging um die Welt.

Paulus war ein Apostel des Wir-Gefühls. Das Wir-Gefühl war für die jungen christlichen Gemeinschaften, die rund um das Mittelmeer entstanden, existentiell notwendig. Ein Beispiel: Die junge Gemeinde in Korinth war alles andere als einmütig und sorgenfrei. Sie waren streitlustig, sie konkurrierten mit ihren Begabungen untereinander und die einzelnen ließen keine Gelegenheit aus, zu zeigen, wie wichtig sie sind und was sie können. Wie sollen in einer solchen Gemeinschaft der Gemeinsinn, das Gemeinwohl, die Bindungskraft an die gemeinsamen Wertvorstellungen gestärkt werden, wo zu allem noch dazu kommt, dass diese Gemeinschaft eine Person verehrt, die von den Römern als Verbrecher am Kreuz hingerichtet wurde. Paulus setzt darauf: Es geht nicht um Status, sondern um die gemeinsame Aufgabe. Im Bild vom Leib und den vielen Gliedern macht er das bewusst.

Das Bild vom Leib und den vielen Gliedern überwindet Grenzen, es zielt auf das Miteinander und die gemeinsame Aufgabe ab. Alle Glieder haben ohne Unterschied eine gleich wichtige Aufgabe. Kein Glied darf ein anderes zurücksetzen und sagen: Ich brauche euch nicht. Alle Glieder sind aufeinander angewiesen. In ihrer Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit der Aufgaben bilden sie den Leib Christi. Das Bild vom Leib beschreibt ein Ideal-Wir-Gefühl, in dem jede und jeder einzigartig bleibt und ist und gewürdigt und geschätzt wird mit seiner Aufgabe, mit seinem Können, mit dem Besonderen, das er/sie ins Wir einbringt. Welch eine Botschaft für diese Welt – sich so zu verstehen. Welch eine Aufgabe, das zu leben und umzusetzen in aller Konsequenz. Modell für eine neue Gesellschaftsentwicklung hin zu einem neuen Wir-Gefühl.

1 Kor 12,12-27 
Denn wie der Leib einer ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: So ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt. Auch der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und wenn das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört es doch zum Leib. Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? Nun aber hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit umso mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm.

Text: Dr. Claudia Hofrichter