Impuls der Kolpingsfamilie zum 31. Juli 2022: „Jeder Tag ist ein Gedicht“

Foto: Loni Stoegbauer in Pfarrbriefservice

"Jeder Tag ist ein Gedicht." Der Schriftsteller Martin Walser hat das zu seinem 95. Geburtstag geschrieben. Wer auf ein so langes Leben zurückblickt – doch nicht nur der/die – kennt die Weisheit eines jeden Tages. Jede und jeder weiß um die Sternenmomente des Glücks, in denen man sich im siebten Himmel fühlt. Jede und jeder trägt die persönliche Schatzsammlung an wichtigen Begegnungen und Erfahrungen mit sich. Jede und jeder weiß um die tragenden Beziehungen. So reihen sich Geschichten um Geschichten über das Leben aneinander. Ein sehr ideales Bild vom Leben.

Martin Walsers Satz ist noch nicht zu Ende. Er hat einen zweiten Teil: „das wir aus Unachtsamkeit nicht lesen.“ Was so poetisch anmutete, bekommt einen anderen, sehr ernsten Klang. Was kann damit gemeint sein? Ich ahne es: es geht darum, wie ich viele Ereignisse, Erfahrungen, Dinge, die mir widerfahren, in den Gesamtzusammenhang meines Lebens einordne. Welche Deutung und Bedeutung gebe ich ihnen? Sage ich, das war ein Unglück? Sage ich, das kann doch nicht wahr sein, dass das mir passiert? Kann das sein, dass das Schicksal so zuschlägt? Doch auch weit über mein persönliches Leben hinaus: Wie kann man Frieden durch Krieg erreichen wollen? Wieso müssen so viele Menschen hungern? Werden wir die Erderwärmung noch senken können? Für all diese Themen brauchen wir eine große Achtsamkeit, denn sie gehören genau zu unserem Leben dazu.

Zu unserem Lebensgedicht gehören die glücklichen und glückseligen Augenblicke und Phasen und es gehören die herausfordernden Zeiten dazu. Beide ergeben das Gedicht unseres Lebens. Die Achtsamkeit könnte darin bestehen, immer wieder innezuhalten, um zu schauen, wie alles einen Sinn ergibt – und wenn es zunächst der Sinn ist, dass ich mich einem Thema meines Lebens oder unserer Welt stelle. Achtsamkeit könnte darin bestehen, innezuhalten, um wichtige Erfahrungen in der Erinnerung wachzuhalten. Achtsamkeit könnte darin bestehen, dass ich mich engagiere für eine bessere Welt in meiner Umgebung und überall dorthin, wohin mein Arm in irgendeiner Weise reichen kann.
So fügen wir dem Gedicht unseres Lebens Strophe um Strophe, Vers um Vers, Zeile um Zeile zu: mit der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit in jedem Augenblick unseres Lebens.

Diese Sommerzeit möge uns diese Achtsamkeit immer wieder schenken und sie einüben lassen.

Text: Claudia Hofrichter