Impuls der Kolpingsfamilie zum 7. August 2022: Schachspielende Gänse

Foto: Claudia Hofrichter

Die „schachspielenden Gänse“ habe ich im Hof des Schlosses in Sully in Burgund entdeckt. Am zweiten Tag meines Urlaubs wurde dieses Schauspiel wie zu einer Schlüsselsituation dieser freien Woche und versetzte mich genau in diesen Mußemodus, den ich mir für die kommenden Tage wünschte. Den Gänsen, wie sie über das Schachfeld liefen, einfach zuzuschauen, zog mich magisch in Bann und ließ mich wohltuend entspannter werden trotz der glühenden Hitze, deren Freundin ich nun weniger bin. Mehr zufällig – meinte ich zuerst! – war ich zu diesem Schloss gekommen. Doch es hat ja alles, was einem geschieht, eine Bedeutung, auf deren Spur zu kommen sich lohnt. Alles, was uns widerfährt, ist eine Spur zur Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ Diese Frage begleitet jeden ein ganzes Leben lang – mal mehr, mal weniger stark bewusst.
Ja, ich bin die, die den scheinbar schachspielenden Gänsen gerne zuschaut, die es genießt zu sehen, wie die Schachfiguren und die Gänse zusammengehören. Genießen können und immer wieder genießen dürfen, das ist mir wichtig. Entspannte Zeiten mit Freunden und Bekannten bei einem Glas Wein, bei einem Ausflug, … genießen, das tut mir gut und schenkt mir Energie. Die Schachfiguren dieses Spieles wecken natürlich auch Assoziationen in mir. Nein, ich will nicht auf einem Spielfeld hin- und hergeschoben werden. Ich will nicht manipuliert werden, dies oder das zu tun. Ich will keine Arbeitsaufträge übernehmen, die mir nicht liegen und von denen ich ahne, dass ich sie nicht gut machen werde.
Und so führt mich diese kleine Episode von den schachspielenden Gänsen tief hinein in meine Biographie und meinen Erfahrungen, die zu meinem „Wer bin ich?“ dazugehören. Da ist es wieder, dieses Thema von einer guten Balance zwischen Muße und Arbeit, zwischen dem, was mir zutiefst das Gefühl von Ganz sein vermittelt und dem, was mich manchmal aufmucken lässt und mich verleitet zum Widerstand. Da ist sie, diese ständige Aufgabe, die Balance zu halten zwischen der Sorge um den heutigen Tag und der Haltung der Lilien auf dem Feld, die wunderschön sind ohne selbst etwas dazugetan zu haben (Matthäus 6,28). Ja, wenn ich diese Balance spüre, dann ahne ich zutiefst, wer ich bin und wem ich mich verdanke.

Und wäre ich kein Mitglied der Diözese Rottenburg-Stuttgart, dann würde mir nun nicht die Gänsestory zum heiligen Martin einfallen. In Martins Lebensplan und seiner Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ passt es überhaupt nicht hinein, dass die Menschen damals sich ihn als Bischof wünschen. Also versteckt er sich in einem Gänsestall. Die Gänse allerdings verraten ihn durch ihr umso lauteres Geschnatter. Und so wurde er Bischof wider eigenen Willen. Seine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ war ihm nun neu aufgegeben. Vielleicht ahnte er bereits, dass er lebendiger Zeuge einer für die damalige Zeit alternativen Lebensweise zum Gewohnten war.

Meine Tage in Burgund gehen zu Ende, ich habe sie genossen und war mit Muße unterwegs. Diese Seite des Lebens zu stärken, tat mir gut.

Übrigens: John Strelecky hat ein lesenswertes Buch zur Frage „Wer bin ich?“ geschrieben. „Überraschung im Café am Ende der Welt. Eine Erzählung vom Suchen und Finden. dtv 2021. Die Lektüre lohnt.